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Weihnachtsbrief 2022

Liebe Freundinnen und Freunde vom ›Stern der Hoffnung‹,
an der Pforte des Arc-en-Ciel-Krankenhauses in Benins Hafenstadt Cotonou steht eine Bank. Darauf warten einige wenige, die kein Geld für ihre Behandlung haben. Sie hoffen auf jemanden, der eine barmherzige Seele hat. Die Augen der Vorübergehenden senken sich verlegen, ihre Gesichter drehen sich in eine andere Richtung und ihre Schritte beschleunigen sich. Wer kann schon den eigenen Sorgen auch noch die der anderen hinzufügen?
Vor zwei Monaten lag der kleine Cheruane schwer atmend auf dieser Bank. Unterernährt, fiebrig und fröstelnd war er von seinem Vormund, der kein Geld für seine Behandlung aufbringen konnte, dort abgelegt und vergessen worden. Vielleicht war es Zufall, vielleicht eine Art von Vorsehung, dass Isaac, der Leiter von Nukundido, dem ›Stern der Hoffnung‹ in Benin, an diesem Tag das Krankenhaus für eine Patientin aufsuchen musste. Er beugte sich über die Bank, betrachtete den Jungen und musste lange warten, bis Cheruane bereit war, ihm den Weg zum ›Onkel‹ zu zeigen, der ihn nicht mehr sehen wollte.
Isaac hatte schon geahnt, was sich in der Folge als Tatsache herausstellte. Der ›Onkel‹ wusste, dass der Vater des damals Dreijährigen an dem ›dämonischen‹ AIDS gestorben war und dass seine damalige Nebenpartnerin, Cheruanes Mama, ebenfalls positiv geworden war. Als diese gesehen hatte, wie ihr Kind ständig noch mehr abmagerte und sich seine Gesundheit täglich zunehmend verschlechterte, war sie in Panik geraten: ihr Geheimnis könnte für alle sichtbar werden. Sie spürte das unheimliche Schweigen und das Tödliche des Tabus über die Krankheit von Cheruane in der Nachbarschaft. Das Gefühl, von den bösen Blicken durchbohrt zu werden, wurde stärker und stärker. Deshalb überließ sie Cheruane dem Mann, mit dem sie ihr Leben eine Weile geteilt hatte – und floh in die Dunkelheit ihrer Verzweiflung. Sie wollte in das Dorf ihrer Vorfahren zurück, um sich im sicheren Busch zu verstecken und das Unglück zu vergessen, das über sie hereingebrochen war.
Für die Mitarbeitenden von Nukundido hat es Geduld und immer neue Annäherungen gebraucht, bis der ›Onkel‹ bereit war, über die Situation zu sprechen und Cheruane trotz des positiven Tests auf HIV nicht zu verstoßen. Wie immer wirkte die von ihm nunmehr täglich kontrollierte Einnahme der antiretroviralen Mittel ihre Wunder. Cheruane blühte auf und geht heute mit anderen Kindern zur Schule. Es ist nicht mehr das Virus, das die tödliche Gefahr darstellt, es sind das Tabu und die stillschweigende Verbannung, die heute für Mütter, für Kinder und HIV-erkrankte Männer den Tod im Dunkel ihrer Verfemung bedeutet.
Wie gerne hätte ich Cheruane mit den Mitarbeitenden in Cotonou besucht und in meine Arme geschlossen. Die Covid-Bestimmungen in Benin haben die Reiseplanungen aber immer wieder vereitelt. Doch in Brasilien, in São Paulo, konnte ich nach der erzwungenen Sesshaftigkeit in diesem Jahr endlich wieder landen.

Schon im Trubel des Wiedersehens mit den drei Generationen von Gepflegten fiel mir ein neues Gesicht auf: das vornehme und gestrenge Antlitz von Aloisio aus dem indigenen Stamm der Tapuias Cariris.
Aloisio wurde am Rande des Regenwaldes im Nordosten Brasiliens geboren. Er erzählte mir unverzüglich und immer aufs Neue von den Vögeln seiner Herkunft. Sie machten offensichtlich das ganze Glück seiner Kindheit, ja des Lebens überhaupt aus. Wie von niemandem sonst erfuhr ich, was es heißt, dass wir – nach der Bergpredigt – das Entscheidende ›von den Vögeln des Himmels‹ lernen sollten. Sie sind sorglos und schön, sie singen ständig und spielen miteinander und reisen weit herum über alle Lande.
Das geheimnisvolle Land, in dem Aloisio geboren worden war und mit den Vögeln gelebt hatte, hat sich im Rauch des Raubbaus aufgelöst und in ein industrialisiertes Ödland verwandelt. Die Vögel singen nicht mehr. Sie sind verschwunden.
Aloisio hat sich ins Exil gerettet. Der Hunger trieb ihn nach São Paulo, wo er als Aushilfskraft in einer Druckerei etwas Arbeit fand. Das war ein Glücksfall, weil er in der Arbeitsstätte das Material fand, um seine Vögel wieder zum Leben zu erwecken. Er gravierte sie in Stoffe ein. Als das Unglück es wollte, dass die Druckerei geschlossen werden musste, blieb ihm kein anderer Ausweg, als sich im Drogenhandel ein Auskommen zu verschaffen – mit Pflanzen kannte er sich aus. Aus dem schüchternen Indianer wurde ein gewalttätiger und gefürchteter Dealer, der schließlich in einem der entsetzlichen Gefängnisse von São Paulo eingesperrt leben musste. Dort wurde er mit HIV infiziert und erkrankte später an AIDS .
Freigelassen irrte Aloisio durch die Straßen und verkümmerte unter Brücken. Irgendwo hatte er vom ›Stern‹ gehört und fand Zuflucht im Haus ›Esperança‹. Hier, in der vom prallen Leben erfüllten Pflegestation von Marco, konnte er Vögel füttern und ihnen erneut zuhören. Er fand zurück ins Traumland seiner Kindheit. Obwohl seine rechte Hand inzwischen gelähmt war, streichelte er mit blauen Stiften das Papier so lange, bis die Vögel sichtbar wurden. Er verstarb ganz friedlich am 14. September und grüßt uns zu Weihnacht mit seiner letzten Zeichnung.
Die Zeiten, in denen wir leben, scheinen düster und erloschen. Doch in jedem von uns springt der Funke über, wenn wir einander gern haben.
Den Dank für Ihre Solidarität mögen Sie aus der Nähe all der Vögel spüren, die sogar jetzt im Winter über die Kontinente ziehen.
Von ganzem Herzen wünsche ich Ihnen ein friedliches und besinnliches Weihnachtsfest,

Lisette Eicher

Stern der Hoffnung
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